Wieder mal: ungewöhnlich schlecht geschlafen vor einer Radtour. Nun gut – 300km fährt man ja nicht alle Tage, das fremde Bett (im Alten Zollhaus in Rinteln) sowie – wohl vor allem – das Ergebnis der Teambesprechung („Wir fahren einen 30er-Schnitt.“) hat offenbar nicht eben zu meiner Beruhigung beigetragen. Zehn Stunden mit für dieses selbstmörderische Tempo ausreichendem Druck auf der Pedale – das bin nicht ich. Dachte ich.
Am Morgen beruhigte ich mich dann mit der Weisheit aus Läuferzeiten: die vorletzte Nacht vor dem Ereignis ist ausschlaggebend. In der Aufregung – bezogen auf einen Marathon, zum Beispiel – schläfst Du in der letzten Nacht eh nicht. Würde also schon irgendwie schief gehen.
Ein kleines Frühstück war in dem Anmeldepaket enthalten. Beruhigte auch ein bißchen. Der Hungerast ist meine größte Angst. Das erwähnte ich aber schon gelegentlich beiläufig. Nachdem es um 06:39 – wenn ich mich recht entsinne, nicht ganz pünktlich – auf die Strecke ging, verflog die Beruhigung aber recht bald. Der Tacho zeigte fast durchgehend eine Zahl > 5 hinter der 3. Die größere Gruppe, die potentiell mehr Optionen zur Arbeitsteilung bot, löste sich recht bald auf. Aber immerhin war die Gruppenstärke auf fünf angewachsen.
In Bodenwerder – nach ca. 50 Kilometern – ging es das erste Mal rechts raus. Zum Stempeln. Ein reichhaltiges Buffet gab es auch – für mich ein halbes Marmeladenbrötchen und einen halben Kaffee. Mehr war angesichts unseres straffen Zeitplans nicht drin.
Die folgenden Kilometer verlaufen ereignislos. Landschaftliche Ablenkungen fallen auch aus – das Weserbergland hüllt sich in relativ dichten Nebel. Erinnerungen an Gran Fondo 4 werden wach… aber ganz so rattenkalt ist es GsD nicht. Den zweiten Stempel gibt es in Holzminden – bei Kilometer 80. Meine Ecke sozusagen. Der Leitwolf toleriert den von den netten Mädels der „Hafenbar am Weserkai“ aufgezwungenen Kaffee und nach einem vergleichsweise längeren Stopp geht es weiter. Wie bisher zunächst weiter entlang der Weser und damit größtenteils flach. Das Tempo? Nein, unverändert. Unverändert Wahnsinn. Nach ca. 60 Kilometern hatte ich mir mal die bisherige Durchschnittsgeschwindigkeit angesehen: 33 km/h. Ha! Ich wußte, ich würde sterben – oder wahnsinnig stolz sein.
Kurz nach dem Stopp hat sich dann P. gelegt. Weil es hinter mir passierte, habe ich es nur gehört. Die Tattoos sahen aber böse aus. P. beweist den Sportsgeist eines englischen Innenverteidigers, spricht „ja, es tut schon weh – mal gucken wie es wird. Fahr dann erstmal nicht vorne.“, schüttelt sich ab … und fährt weiter.
Auch nicht viel später, kurz hinter Höxter, biegen wir nach links ab, von der Weser weg. Wir werden doch nicht? Ich hatte vorher nur einen flüchtigen Blick auf den Track geworfen, und freu mich jetzt, dass wir durch Fürstenberg fahren. Dort haben meine Großeltern gelebt, und durch Fürstenberg zu fahren ist sozusagen das Sahnehäubchen auf diesem Ausflug in meine Kindheit. Nach Fürstenberg zu fahren heißt aber auch, etwas klettern zu müssen. Ich kämpfe mich an die führenden Bergflöhe ran, in der Absicht, um einen Fotostopp zu bitten – und verwerfe die Absicht alsbald wieder. Und speichere das Bild meines Rennrades vor der „Fabrik“ im Kopf ab.
Danach gibt es sogar noch einen kleinen Ausflug in den Solling dazu. Was dazu führte, dass der „rote“ – der harte Kern unseres kleinen Trupps war auf sechs angewachsen – anzweifelte, dass wir noch richtig seien. Aber bald danach finden wir die Weser wieder.
Und Anschluss! Aber wie.. auf dem Radweg eine größere Gruppe Radler. Alle gleich gewandet. Blau-weiß-rot. Während wir sie überholen, wechseln sie zu uns auf die Straße. Wie es der Zufall will, führe ich zu diesem Zeitpunkt unsere Gruppe an. Und werde alsbald nach hinten beordert. „Wir wollen gewinnen“ – sagt F. „Stramme Wechsel“ sagt G.
Nein, denke ich. Wir können nicht gewinnen.. Das sind zu viele. Die sind zu gleich angezogen. Trotzdem spielen wir eine gute halbe Stunde zusammen. Wir ziehen sie, sie ziehen uns. Und wie! Nach einer Weile setzen die Holländer sich vor uns. Auf dem Tacho steht längst vorne die 4. M. dreht sich fragend um. Fast bin ich geneigt, einen Hauch von Verzweiflung aus dem Blick zu lesen. „Fahren lassen?“ Ja, denke ich. Zu gleich angezogen, denke ich. Sicher nur eine rhetorische Frage, denke ich.
Und G.? Der ruft sowas wie „Close the gap!“ und die Jagd geht weiter. In dieser halben Stunde stieg unsere Durchschnittsgeschwindigkeit um mehrere Nachkommastellen.
Meine Gebete wurden dann, wie schon angedeutet, erhöht: kurz vor Hannoversch-Münden trennten sich unsere Wege, weil die Niederländer „nur so“ spazieren fuhren.
Hannoversch-Münden also. Wo Werra sich und Fulda küssen… Die Weser ist also zu Ende, wir müssen umkehren. Vorher „dürfen“ wir aber noch kurz Pause machen. Die DLRG reicht Nudeln mit Tomatensoße. Dazu Cola und ein Malzbier. F. macht den Fehler, von negativen Splits zu reden und entledigt sich seiner Armlinge – ein deutliches Zeichen: jetzt macht er ernst.
In Hann.-Münden sehe ich auch das erste Mal auf die Uhr. Punkt Zwölf. Ausgezeichnet, das Essen kommt genau pünktlich. Vorher war mir ein, zwei Mal aufgefallen, dass ich keine Ahnung hatte, wie spät es war. Und dass mir das auch erfreulich egal war. Nach dem Stop geht es erstmal weiter wie bisher. Moment. Ich erinnere F. sagen hören, dass das mit dem negativen Split eigentlich ein Scherz war. Ich schenk ihm mal ein „Ironie!“-Schildchen. Meine Erinnerung beginnt dann auch zu verschwimmen … treten, treten, treten. Ein bisschen feucht war es – aber hauptsächlich von unten. Von oben kamen nur ein paar Tropfen. Ansonsten fuhren wir wohl dem Regen hinterher. Von oben strahlte Klärchen jetzt vermehrt.
Was ich erinnere ist, dass ich gelegentlich den Anschluss an die Gruppe verliere und mit mit, sagen wir mal, nennenswerter Anstrengung wieder rankämpfen muss. Vom Rückweg, auf der anderen Weserseite, erinnere ich den Blick auf das Schloss (zu Fürstenberg). Und, nachdem unsere Gruppe zwischenzeitlich Zuwachs bekommen hatte, G.’s Satz „…wir haben jetzt einen 33er-Schnitt…den bringen wir jetzt auch nach Hause.“ Und, sehr deutlich: mein inneres Aufstöhnen, dass diesem Satz folgte.
Einen letzten Stopp, eine letzte Cola, einen Energydrink (nicht aus österreichischer Produktion) gab es auch noch. Etwa um km 250 rum. Gesprächsthema waren die nun anstehenden Steigungen. Prädikat, aus berufenem, weil alpenerfahrenem Munde: „heftig“.
Was soll ich sagen? Das Gehügel hat mir den Rest gegeben. Die Gruppe fiel dann auch auseinander. Ich bin das Ding mit F. (hoch motiviert, an ihm dran zu bleiben: er war mein Fahrer) und P. zu Ende gefahren. Letzterer hat uns dann aber gegen Ende noch fahren lassen. Im Rückblick sind wir auf den letzten guten 50 Kilometern nicht viel langsamer geworden. Immerhin haben wir den 32er-Schnitt nach Hause gefahren … aber genau diese 50 Kilometer waren wohl das, was die Weserrunde zu dem Härtesten gemacht hat, das ich bisher auf dem Rennrad gemacht habe. Und weiß Gott – sie schienen einfach nicht zu Ende zu gehen. Dieser Abschnitt war wirklich „ruhig“ – ich war, neben dem unvermeidlichem Treten, vor allem damit beschäftigt, gedanklich vor mich hin zu fluchen. Und ohne, dass er was sagte, wusste ich, dass F. das gleiche tat.
Geärgert hab ich mich auch, kein Gel mehr zu haben. Dass es sinnlos war, die letzten Riegel zu essen, war mir klar. Mein Magen würde jetzt sicher nichts festes mehr verstoffwechseln können. Allein, um mich abzulenken, hab ich es dann doch gemacht.
Und irgendwann gegen 17 Uhr war die Weserrunde Geschichte.
Weizen. Duschen. Wundenlecken. (vor allem P.!) Abendbrot. Sich feiern. Und in meinem Fall: Entzücken ob des Umstandes, dass am nächsten Tag Sonntag ist und der feste Entschluss, nichts zu machen außer zu schlafen. Und das Rad zu putzen.
Ein großartiges Erlebnis. Das durchaus vorzeigbare sportliche Ergebnis habe ich zwar nur fremdbestimmt überhaupt erst gewagt, anzugehen – mindert aber gerade nicht den nicht zu verleugnenden, endorphinverstärkten Stolz. 05.09.2015 soll ich vormerken, hieß es. Dem komme ich gerne nach.