Festive 500 2016: Küstenfest

Wenige Tage vor dem geplanten „Küstenfest“ – wie der Herr Bornmüller das anstehende Himmelfahrtskommando zu bezeichnen beliebte – redete  ich mir noch ein, ich bräuchte nur die Nacht zu überstehen, der Rest ginge dann schon irgendwie. Wie ein Arzt, der den Angehörigen eines frisch operierten mitteilt, man müsse erstmal die Nacht abwarten. Wie passend dieser Vergleich war, sollte mir allerdings erst in der Nacht aufgehen.

Und „Himmelfahrtskommando“? Habe ich nicht bereits einen früheren  Bericht exakt so betitelt? Na gut – um ehrlich zu sein, habe ich durchaus schon im Vorfeld eine realistische Chance gesehen, eine weitere Festive „in one go“ zu überstehen. Aber mit nicht mal der Hälfte der Kilometer meiner Mitstreiter und fehlenden längeren Touren war schon klar, wer das schwächste Glied in der Kette sein würde. Aber wenigstens war ich ausgeschlafen, als ich am zweiten Weihnachtsfeiertag an der Kirche ankam.

Der Plan war, ein Brevet abzufahren, das Gerrit im Sommer gefahren war. Plus Zu- und Abfahrt und einem kleinen Schleifchen ziemlich exakt 500km. Im Gegensatz zu 2014 also durchaus solide geplant. Nur … vielleicht ein bißchen wenig an die aktuelle Wetterlage angepasst. So war mir zwar durchaus klar, dass es windig werden würde. Sehr windig. Aber: „Sturmböen“ und „orkanartig“ sind eben nicht nur Worte. Und das habe ich – ehrlich gesagt – in der Nacht des zweiten Weihnachtstages 2016 auf die harte Tour gelernt.

Es fing ganz harmlos an. 18:00 Treffen an der Kirche. Zu meine Überraschung dabei: Matthias, der uns ein Stück begleiten möchte. Bis zur Stadtgrenze, wie er sagte.

Also: erstmal auf meinem Arbeitsweg in die Stadt. Ja gut, es hagelt. Und es liegt vielleicht ein bißchen viel Geäst auf dem Weg rum. Wind war zunächst nicht das große Thema. Nach etwa 50 Kilometern biegt Matthias planmäßig ab und wünscht uns eine gute Weiterreise. Ein Garagentor knallt erschreckend laut. Ich esse einen Riegel. Letzteres scheint mir festhaltenswert, weil es der einzige der acht mitgenommenen bleiben wird. Ich esse ungewöhnlich wenig auf dieser Fahrt – aus Gründen.

Die ersten, gut 100km gingen aber insgesamt relativ schnell vorbei. Für die erste Pause in Bad Bramstedt war ich allerdings trotzdem nicht ganz undankbar.

#festive500

Ein von Gerrit Bornmueller (@gerrit_bornmueller) gepostetes Foto am

Es mag wohl so 22 Uhr gewesen sein. Auf dem Display meines Mobiltelefons die erste von zwei KATWARN-Meldungen, die es diese Nacht anzeigen sollte. Beide herausgegeben vom Deutschen Wetterdienst. Diese erste bezog sich allerdings noch auf ein Gebiet, das wir gerade verlassen hatten. Zu Hause war es wohl auch nicht sehr gemütlich, denn auf dem Display fanden sich außerdem noch die ein oder andere besorgte Kurznachricht. Ich versprach also, Vernunft walten zu lassen – und machte erstmal weiter.

Dann kam auch bald der Wind. Meine Mitstreiter hatten beide geäußert – ich selber bin da manchmal etwas unbedarft – in Husum wären wir im Grunde fertig und müssten uns nur nach Hause schieben lassen. Zugegebenermassen hatte ich mich nicht sonderlich intensiv mit der Strecke befasst. Husum, waren das nicht etwa 180 Kilometer, von zuhause aus? Vielleicht 200 wegen des Schlenkers über Ahrensburg? Na ja, ich musste mir erklären lassen, dass es wohl doch so eher 230 werden würden.

Nun gut. Spätestens jetzt waren wir alle ziemlich alleine für sich. Der pfeifende Wind machte Kommunikation quasi unmöglich. Sie blieb mithin auf das nötigste beschränkt. Und was mach ich so allein? Wie motiviere ich mich?

Man muss dazu sagen, dass wir nun über mehrere Stunden demoralisierenden Gegenwind ausgesetzt waren. Geschwindigkeiten von teilweise 15 km/h. Die Entfernungsangabe auf meinem Garmin ohne Nachkommastellen … was bedeutete, das es bis zu vier Minuten dauerte, bis sich die Anzeige ändert. Keine zweihundert Kilometer und es fühlt sich an wie 2014 kurz vor Heide … also gute 300 km später.

Dreihundert? Mein zwischenzeitlich gesetztes Minimalziel scheint mir langsam auch utopisch zu werden. Wenn ich heute dreihundert fahre, krieg ich die Festive vielleicht trotzdem voll, wenn ich heute nicht durchziehen kann.

Irgendwann reift in mir der Entschluss, bis Kiel durchzuhalten. Das sind dreihundertfünfzig Kilometer. Immer wieder fällt mir ein, dass es ja auch irgendwann wieder hell wird. Und dass dann vielleicht wirklich das schlimmste vorbei ist. Ach, und ich zähle meine Winterpokalpunkte mit. Kopfrechnen fällt zunehmend schwerer – was den Vorteil hat, dass man dadurch wirklich etwas Zeit vertreiben kann. Und bis Kiel dürfte ich auch die Rote Laterne in meinem Team abgegeben haben.

Der nächste planmäßige Stop muss dann aber ausfallen: keine 24h-Tanke in Meldorf. Zwanzig Kilometer davor hatte ich noch auf einem Stop bestanden, um mein Getränk umzufüllen. Ich hatte eine Thermosflasche mit Schraubverschluss dabei, aus der ich während der Fahrt nicht trinken konnte. Da ich relativ stark schwitzte, habe ich danach dann großzügig getrunken. Die geschlossene Tanke war insofern schon ein übler Dämpfer. Mitten im Nichts war ich dann aber froh, dass es wenigstens warm genug war, dass wir in einem Bushäuschen kurz rasten konnten. In meinem „Kofferraum“ hatte ich eine Notration Taurinhaltiger Brause. Die Angst vor dem Sekundenschlaf war zu diesem Zeitpunkt nicht mein zentrales Problem – sie aber jetzt zu trinken meine einzige Chance der bereits spürbaren Dehydrierung entgegenzuwirken.

Es musste also bis Husum irgendwie weiter gehen. In meiner Erinnerung ging es etwa ab dem Eider-Speerwerk wieder so leidlich – will sagen der Wind kam nicht mehr ausschließlich von vorn. Etwa dreißig Kilometer nach Meldorf – also lagen dann näherungsweise zwei weitere Stunden Gegenwind hinter uns.

Kurz vor dem Speerwerk überholt uns eine Streife des Zolls. Mir ist, als ob die Kollegen die Fahrt kurz verlangsamen. Ich stelle mir das Gespräch im Inneren des Fahrzeugs vor. Vermutlich wurde diskutiert, ob man uns aufsammeln oder da draußen sterben lassen soll.

Am Eider-Speerwerk stoppen wir und klettern auf den Deich. Schade, dass man den Sturm nicht bildlich festhalten kann – im Dunkeln schon gar nicht. Geschwächt wie ich war, habe ich mich nicht getraut, den Deich aufrecht runterzugehen. Ich war sicher, das hätte mich von den Füßen gerissen. Daher bin ich auf dem Hosenboden runtergerutscht.  Sah bestimmt lustig aus.

Die Kraft unseres Gegners wird mir noch mehr bewußt, als er endlich wieder von hinten kommt. Und wir nicht einmal mehr treten müssen, um 20 km/h und schneller zu fahren.

Das Zitat dieses Abschnitts muss ich übrigens Gerrit zuschreiben: „Gut dass wir keinen Rückenwind haben. Dann wären wir ja viel zu schnell.“ Genau. Und selbst wenn ich auch keine Lust hätte, mit 40 Klamotten über unbeleuchtete Straßen zu bügeln, muss man sich das doch mal auf der Zunge zergehen lassen.

#festive500 22er Schnitt bis Husum. Leck‘ mich am A….

Ein von Gerrit Bornmueller (@gerrit_bornmueller) gepostetes Foto am

Bis Husum waren es dann übrigens annähernd 250km. An der Tanke stand gerade Schichtwechsel an: Frühdienst. Tageslicht greifbar. Ich esse (nach Bad Bramstedt) mein zweites Brötchen. Exe eine Cola, stecke eine weitere ein und fülle meine Flaschen auf. Hoffnungen, wieder auch nur ansatzweise zu rehydrieren habe ich allerdings nicht wirklich. Ich glaube zu diesem Zeitpunkt auch nicht, dass ich die für mich viel zu lange Zeit ohne Pause – immerhin 150km, also unter normalen Umständen ein achtbares Tagwerk – wieder „reinholen“ kann. Körperliche Befindlichkeiten – meinen unter anderen Umständen beängstigend dunklen Urin mal aussen vor gelassen – kommen dann noch dazu. Schulterschmerzen, verspannender Nacken der sich allmählich auf den ganzen Rücken ausdehnt, immer wieder spürbare wenn auch noch nicht störende Krämpfe und vor allem die Lendenwirbelsäule – immer wieder war ich aufgestanden, um mich zu strecken und sie zu entlasten. Nein, ich litt – und es war nicht nur Kopf.

Egal. Ich bin wild entschlossen, bis Kiel durch zu halten. Gute 50km später, in Schleswig, bin ich schon dankbar und zufrieden, dass wir wenigstens aus „touristischen“ Gründen – für einen Fotostop und einen kleinen Gruß nach Potsdam kurz anhalten.

Als es weitergeht, werden mir zwei Dinge schmerzlich bewußt: erstens, dass ich auf keinen Fall weiter als bis Kiel fahren kann. Zweitens, dass damit die Festive für mich gestorben ist. In den nächsten Tagen noch einmal für drei / vier Stunden aufs Rad zu steigen ist utopisch. Heute ist die letzte Fahrt des Jahres, so oder so.

Dankbar willige ich eiligst ein, als Gerrit in Eckernförde eine Pause vorschlägt. Kilometer 320. Ich kann nicht mehr. Im Sekundentakt entlaste ich abwechselnd meine Schultern und die LWS,  und die Schmerzen lassen nur minimal nach. Leider kam die Idee zu spät. Eckernförde ist zuende, bevor sich die Gelegenheit zu einer Pause ergibt. 30 Kilometer bis Kiel. Ich könnte sprichwörtlich heulen und bin kurz davor, die Jungs ihres Weges zu schicken. Bis Kiel schaff ich es auf jeden Fall, und dann ist eh Schluss.

Letzteres teile ich kurz nach Eckernförde Frank mit. Die Pause kommt etwas früher als erwartet in Gettorf. Kilometer 330. Mir fällt auf, dass ich quasi nichts gegessen habe. Gerrits Vorschlag – nachdem ich ihm mitgeteilt habe, dass ich beabsichtige in Kiel auszusteigen –  nämlich erstmal richtig zu essen, stößt bei mir auch auf wenig Begeisterung. Ich entscheide mich dennoch für ein halbes Käsebrötchen. Und eine Cola. Auf Kaffee verzichte ich zugunsten eines Kakaos. Wer mich kennt weiß: da stimmt was nicht. In der Schlange wird mir schwindelig und auch wieder übel. Ich kann nicht warten, bis mein Kakao fertig ist und entschuldige mich bei der Bäckersfrau … muss mich dann aber doch nicht übergeben.

Am Tisch nehme ich dann doch die angebotene Ibu an. Texte nach Hause, dass das Abenteuer in Kiel für mich zuende ist.

Irgendwie scheint mich das offiziell machen meiner Entscheidung erleichtert zu haben, denn nach dem zweiten Frühstück mache ich wieder Faxen:

Foto: Rosi

 

In der Folge rechne ich noch etwas rum: 350 bis Kiel, dann 20 von Altona nach Hause, blieben 130 für die Festive. Aber es bleibt, wie es ist: noch einmal für mehrere Stunden aufs Rad zu steigen ist utopisch.

Aber dann passiert etwas mit mir. Vielleicht löst sich der Knoten im Kopf. Auf jeden Fall hilft die Ibu meinen Schultern. Bleiben LWS und Krämpfe als Baustellen. Ich habe gemerkt: ein paar Minuten sitzen hilft dem Rücken. Die Krämpfe stören immer noch nicht, und diese komische Verhärtung im Oberschenkel kann ich ignorieren. In Kiel steht mein Entschluss fest: ich handele eine Erhöhung der Pausenfrequenz aus und bleibe dabei. Also: an der Tanke in Kiel noch mal die Flaschen aufgefüllt, zehn Minuten gesessen und gehofft, dass der Rücken für 50km Ruhe gibt.

Tat er. In Wahlstedt, bei einem Bäcker im REWE gibt es dann die nächste Pause. Ich weiß nicht mehr. Ich glaub ich habe irgendwas gegessen und einen riesigen Milchkaffee getrunken.

In Erinnerung bleibt mir das zankende Pärchen in meinem Rücken. Es ergab sich folgender Dialog:

Sie: „Ja, Radfahren. Wozu hast Du Deins eigentlich noch. Du fährst ja gar nicht mehr“.

Er: „Jawohl fahr ich. Erst Sonntag bin ich meine 40 Kilometerrunde gefahren. Außerdem hab ich ja nie Zeit!“

Sie: „Wie du hast nie Zeit? Guck mal, jetzt hast Du Zeit! Hol doch Dein Rad. Soll ich die Jungs mal fragen, ob sie dich mitnehmen?“

Er: „grummelgrummel…Gegenwind…grummelgrummel“

Darauf sie dann, an mich gerichtet, ob wir auch bei Gegenwind führen. Ja schon, aber so drei vier Stunden konstant von vorne – wie heut nacht halt – wären schon arg demoralisierend.

Die Blicke: Priceless.

Nach kurzer Erklärung, was wir gerade so machen, waren die beiden dann auch schnell weg. Bloß weg von den Verrückten.

Ja, warum eigentlich? #festive500

Ein von Thomas Pape (@aggrojogger) gepostetes Foto am

In der Folge gab es dann, ob des wieder auftretenden Gegenwindes, doch noch eine kleine Planänderung: nicht nach Ahrensburg zurück, sondern über Hummelsbüttel nach Hamburg rein. Angelehnt an Rosis Arbeitsweg, aber ob der starken Verkehrs spaßbefreit. Außerdem: jetzt waren wir, 50km vor dem Ziel, schon in Hamburg. Eigentlich wäre meine Pause fällig. Engelchen. Teufelchen. Ich kann meinen Rücken nicht ignorieren. Aber ich will keine Pause mehr. Ich will nach Hause. Die Lösung sind die Ampelstops. An der Ampel kann ich meinen Rücken ausreichend entlasten.

Große Freude, als ich am Winterhuder Fährhaus endlich ganz genau weiß, wo ich bin. Und weiß, ich fände mich auch allein und ohne Karte nach Hause. Große Freude ob des Willkommensfeuerwerkes an der Alster. Die nächste Ineonego-Truppe verabschieden scheint kurz reizvoll. Aber nein. Wir wollen alle nach Hause.

In Harburg fehlen uns noch der ein oder andere Kilometer. Wir kreiseln ein bißchen in der Hood umher. Als Rosi an seinem Akku nestelt, stütze ich mich auf dem Lenker ab. Schließe die Augen. Und bin sicher: ich könnte einschlafen. Mein Zustand lässt sich kaum besser beschreiben als bei Feine Sahne Fischfilet: ich bin komplett im Arsch.

An der Tanke Weusthoffstraße endet die Tour offiziell. Meinen zwischenzeitlichen Entschluss mich „hart zu feiern“ (es war nicht immer Zeit für feingeistige Formulierungen) wenn ich das „irgendwie“ durchstehe, habe ich dann auch umgesetzt. Zwei Guinness, 24 Stunden später. Yay. Und natürlich hab ich mir das Scheiß-Jersey bestellt.

Gerrit. Frank. Kleiner drei. Ich kann Euch nicht genug danken, dass ihr mich trotz unleugbarer körperlicher Defizite mitgeschleppt habt. Ich hab’s geschrieben und sag es gerne noch mal: es war mir ein Fest. Ein Küstenfest. Am Ende halt doch. 😉

Im Bericht ein bißchen kurz gekommen, ist leider die überwiegend per Textnachricht übermittelte Motivationsquelle von zu Hause. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne Kati gecheckt hätte, dass ich hauptsächlich ein Kopfproblem hatte. :-*

Danke für’s Lesen.

#festive500 #inonego back home 🙂

Ein von Gerrit Bornmueller (@gerrit_bornmueller) gepostetes Foto am

 

7 Gedanken zu „Festive 500 2016: Küstenfest“

  1. danke Thomas, schön geschrieben, habe mich sehr amüsiert. Wir hatten ähnliche Situationen, 3 Uhr früh in Flensburg, 15 Rennradler sausen voll beleuchtet durch die Stadt, einige Partygänger haben gegrölt, was die wohl gedacht haben …
    Aber euch hat der Wind definitiv härter erwischt, bei uns hatte es einen Tag später schon merklich abgeflaut und in einer 15er-Gruppe kann man die Führungsarbeit gut verteilen bzw. sich im Feld verstecken.

  2. So eine krasse Aktion! Was sagt man da, „Glückwunsch“, reicht das überhaupt?
    Mein persönlicher Lieblingssatz ist „Und natürlich hab ich mir das Scheiß-Jersey bestellt.“ So schön gesagt. Ich hoffe, es passt. Trage er es mit Stolz, er hat es sich extrem redlich verdient!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert